Dein jugendliches Kind sitzt nur noch in seinem Zimmer, will nicht mehr rausgehen, trifft seine Freunde nicht mehr und hat zu allem keine Lust. Frühere Hobbys liegen brach. Dazu kommen oft Kopfschmerzen oder Bauchschmerzen ohne körperliche Ursache. Schlafprobleme, extremes Essverhalten, ständige Müdigkeit aber auch Unruhe. Es motzt bei jeder Kleinigkeit oder reagiert besonders gereizt. Die Beziehung wird zunehmend schwieriger. Da kann schon mal die Frage auftauchen: Ist das noch normale Pubertät oder hat mein Kind vielleicht eine Depression?
Du bist nicht allein mit diesen Sorgen – etwa 3 bis 10 Prozent aller Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren durchleben depressive Phasen. Wenn dein Kind sich zurückzieht und zunehmend gereizt reagiert, während die Verbindung zwischen euch komplizierter wird, ist es völlig verständlich, dass du dir Sorgen machst.
Anzeichen, die uns aufmerksam machen können
Jeder Jugendliche ist einzigartig, und so zeigen sich auch Depressionen auf unterschiedliche Weise. Dennoch gibt es einige Signale, die uns hellhörig werden lassen dürfen:
- Anhaltende Traurigkeit oder Reizbarkeit (manchmal zeigt sich Depression eher als Gereiztheit statt Traurigkeit)
- Rückzug von Familie und Freunden
- Verlust des Interesses an früher geliebten Aktivitäten
- Veränderungen in Schlaf- oder Essgewohnheiten
- Energiemangel und ständige Müdigkeit
- Konzentrationsschwierigkeiten oder schlechtere Schulleistungen
- Körperliche Beschwerden wie Kopf- oder Bauchschmerzen ohne medizinische Ursache
- Äußerungen von Hoffnungslosigkeit oder Wertlosigkeit
Allerdings ist nicht jedes dieser Anzeichen direkt ein Hinweis auf eine Depression. Jeder Mensch durchläuft solche Phasen – entscheidend ist dabei auch die Dauer und Intensität. Wenn mehrere dieser Anzeichen gleichzeitig auftreten, über mindestens zwei Wochen anhalten und den größten Teil des Tages präsent sind, könnte es sich um eine depressive Episode handeln. Selbst dann gibt es noch Abgrenzungen zu beachten, etwa zu Trauerphasen oder anderen Lebensereignissen, die diese Veränderungen erklären könnten.
Der schleichende Verlust von Freude – ein typisches Beispiel
Emma, 14 Jahre alt, liebte den Sport – das Tanzen, Eislaufen, Fußball und Gymnastik als Teamsport. Als sie bei mir in der psychologischen Beratung ankam, hatte sie all das seit 3-4 Monaten nicht mehr gemacht. Sie erzählte mir, dass es schleichend gewesen sei und sie es eigentlich vermisse, aber einfach keine Energie mehr dafür fühle. Manchmal ging sie doch zu ihren Aktivitäten, saß dann aber oft am Rand und schaute zu, weil sie sich nicht gut fühlte. Die Menschen um sie herum waren fröhlich, aber sie selbst nicht – sie beschrieb es, als wäre sie ein Zuschauer ihres eigenen Lebens.
Das ist eine typische Beschreibung, die ich in meiner Arbeit öfter höre, so oder so ähnlich.
Häufige Ursachen und wie wir darauf reagieren können
In meiner Praxis begegnen mir immer wieder ähnliche Ursachen und Auslöser, die zu Depressionen bei Jugendlichen beitragen können. Hier eine Auswahl der häufigsten. Die gute Nachricht: Auf jeden dieser Ursachen und Auslöser können wir unterschiedlich reagieren.
- Genetische Veranlagung: Wie ein höheres Risiko für Rückenprobleme – mit "emotionaler Fitness" lässt sich viel auffangen
- Belastende Ereignisse: Scheidung, Mobbing oder Verluste brauchen Zeit und oft professionelle Begleitung zur Verarbeitung
- Familiäre Spannungen: Verbessern sich durch ehrlichere Kommunikation und manchmal Familientherapie
- Social Media und Leistungsdruck: Lassen sich durch Bildschirmzeiten, technikfreie Familienzeiten und echte Offline-Erlebnisse ausgleichen
Das Wichtigste: Diese Ursachen und Auslöser sind Hinweise darauf, wo wir besonders achtsam sein können – nicht unabwendbare Schicksalsschläge.
Ein wichtiger Hinweis zu den "klassischen" Faktoren: Oft wird gesagt, dass Appetitlosigkeit oder zu viel Appetit, Schlafmangel, fehlende Bewegung und der Verlust von Freude-Aktivitäten Ursachen für Depressionen seien. In meiner Praxis habe ich aber bemerkt: Nur wenige Jugendliche sind so strukturiert, dass sie diese vier Dinge einfach in den Alltag einbauen können und es dann wieder passt. Daher verstehe ich diese vier Bereiche eher als Folgen oder Symptome der Depression – und als gute Indikatoren dafür, wie schwer die Depression gerade ist. Diese Dinge kommen meist von selbst wieder ins Lot, wenn man erst mal auf dem Weg der Besserung ist.
Wie du ein einfühlsames Gespräch beginnen kannst
Es ist nicht einfach, das Gespräch mit einem Kind zu beginnen, das möglicherweise depressiv ist. Weder ungefragte Ratschläge noch direkte Fragen oder Behauptungen wie „Ich glaube, du bist depressiv" sind hilfreich. Wenn Menschen Depressionen haben, sollten wir anders mit ihnen kommunizieren, als der Hausverstand es uns sagt.
Aussagen wie „Du musst doch nur… dann geht's dir wieder gut" oder „Das geht vorüber" mögen objektiv gesehen richtig sein, ziehen jemanden mit depressiven Gefühlen aber oft nur weiter runter. Da wir an dieser Stelle noch nicht wissen, ob es sich um eine Depression handelt, schlage ich vor, lieber behutsam vorzugehen:
„Ich habe bemerkt, dass du in letzter Zeit anders wirkst. Magst du mir vielleicht erzählen, wie es dir geht?"
„Ich bin für dich da, wenn du reden möchtest – jetzt oder später, ganz wie es für dich passt."
Der Schlüssel liegt darin, wirklich zuzuhören, ohne mit Ratschlägen oder Beschwichtigungen zu reagieren. Einfühlsame Fragen stellen, das Gehörte widerspiegeln und versuchen, dich wirklich in die Situation deines Kindes hineinzuversetzen – das kann helfen, eine Brücke zu bauen. Manchmal ist schon das Gefühl, dass jemand ohne Wertung zuhört, eine große Erleichterung für Jugendliche.
Mit schweren Gefühlen umgehen können
Bereite dich darauf vor, dass in solchen Gesprächen sehr schwere Gefühle zur Sprache kommen können, die es auszuhalten gilt. Dazu können auch Suizidgedanken gehören oder das Gefühl, nicht mehr leben zu wollen. So beunruhigend das klingt – Studien zufolge haben etwa 17 bis 29 Prozent der Jugendlichen im Laufe ihrer Pubertät irgendwann solche Gedanken. Diese Information soll dich nicht erschrecken, sondern dir helfen, solche Äußerungen mit mehr Ruhe aufzunehmen.
Wenn dein Kind dir von solchen Gedanken erzählt, ist das meist ein Zeichen von Vertrauen. Es bedeutet nicht automatisch, dass dein Kind tatsächlich Suizidabsichten hat, aber es zeigt, dass es mit schweren Gefühlen ringt, die es nicht allein bewältigen kann. In solchen Momenten ist es wichtig, ruhig zu bleiben, zuzuhören und professionelle Hilfe in Betracht zu ziehen. Jugendliche brauchen in dieser Situation vor allem das Gefühl, dass ihre Gefühle gehört werden, ohne sofort bewertet oder „wegerklärt" zu werden.
Wann professionelle Hilfe wichtig wird
Wenn sich die Situation nicht bessert oder du merkst, dass die Belastung für euch als Familie zu groß wird, ist professionelle Unterstützung sinnvoll. Depression bei Jugendlichen verschwindet nicht einfach von allein. Ein erster Schritt kann ein Gespräch mit eurem Kinderarzt sein, der euch dann zu Kinder- und Jugendpsychologen oder -psychiatern weiterleiten kann.
Besonders wichtig wird professionelle Hilfe, wenn dein Kind:
- Suizidgedanken äußert oder andeutet
- Sich selbst verletzt
- Wochenlang kaum noch isst oder schläft
- Gar nicht mehr zur Schule geht
- Völlig den Kontakt zu Freunden und Familie abbricht
In akuten Krisensituationen zögere nicht, den örtlichen Notruf zu wählen oder die Telefonseelsorge zu kontaktieren.
Wie Therapie in der Praxis aussehen kann
In meiner Arbeit erlebe ich immer wieder, wie kraftvoll es sein kann, wenn Familien gemeinsam an einer Lösung arbeiten. Bei Emma zum Beispiel geschah etwas sehr Berührendes: Nachdem wir einige Einzelgespräche geführt hatten, lud ich auch ihre Mutter zu einem gemeinsamen Termin ein.
In diesem Gespräch öffnete sich die Mutter und erzählte von ihren eigenen Sorgen und Ängsten. Sie sprach darüber, dass auch sie sich manchmal überfordert fühle und dass sie selbst gerade eine Therapie begonnen habe, um besser mit ihren Gefühlen umzugehen. Sie teilte konkrete Beispiele mit Emma: Wie sie gelernt hat, ihre Wut nicht wegzudrücken, sondern sie als Signal ernst zu nehmen. Wie sie Atemübungen macht, wenn die Anspannung zu groß wird. Und dass es okay ist, auch mal zu weinen.
Diese Offenheit der Mutter veränderte alles. Emma begann zu verstehen, dass sie nicht die Einzige war, die mit schweren Gefühlen kämpft. Plötzlich fühlte sie sich nicht mehr allein und defekt, sondern als Teil einer Familie, die gemeinsam lernt, mit Emotionen umzugehen.
In den folgenden Einzelgesprächen war Emma viel offener und kooperativer. Aber vor allem: Der Dialog zu Hause wurde wichtiger. Mutter und Tochter begannen, regelmäßig über ihre Gefühle zu sprechen – nicht um Probleme zu lösen, sondern um sich gegenseitig zu verstehen. Diese authentische Verbindung wurde zur Grundlage für Emmas Heilung. Dabei war es wichtig, dass Emmas Mutter lernte, aus der Mutterrolle heraus über ihre eigenen Gefühle zu sprechen.
Es geht nicht darum, das Kind zur Vertrauten der eigenen Probleme zu machen, sondern zu zeigen: „Auch ich kenne schwere Gefühle und habe gelernt, damit umzugehen." Diese Art der Offenheit - ohne das Kind zu belasten - vermittelt eine wichtige Botschaft: Gefühle sind normal, sie sind bewältigbar, und wir stehen das gemeinsam durch.
Kinder lernen den Umgang mit Gefühlen vor allem dadurch, dass sie sehen, wie ihre Eltern damit umgehen. Wenn wir als Eltern bereit sind, unsere eigene emotionale Entwicklung anzugehen, geben wir unseren Kindern das wertvollste Geschenk – die Erlaubnis, auch selbst zu wachsen und zu heilen.
Selbstfürsorge für dich als Elternteil
Als Elternteil eines möglicherweise depressiven Jugendlichen stehst du vor einer besonderen Herausforderung: Du möchtest da sein und helfen, aber die intensiven Gefühle deines Kindes können dich selbst überfordern. Diese Überforderung ist völlig normal – und ein Zeichen dafür, dass du Selbstfürsorge brauchst.
Warum Selbstfürsorge so wichtig ist: Wenn deine eigene emotionale Belastung zu groß wird, entsteht oft unbewusst eine Abwehrhaltung. Jugendliche spüren das sofort und ziehen sich zurück. Um wirklich helfen zu können, musst du selbst stabil bleiben.
Konkrete Schritte für deine Selbstfürsorge:
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Nach intensiven Gesprächen: Nimm dir bewusst Zeit für dich. Es ist völlig normal, nach Gesprächen über Suizidgedanken oder andere schwere Themen selbst erschöpft und traurig zu sein.
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Hol dir Unterstützung: Sprich mit deinem Partner, Freunden oder professionellen Helfern über deine eigenen Gefühle. Du musst das nicht allein tragen.
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Verarbeite kreativ: Schreiben, Sport oder andere Ausdrucksformen können helfen, deine Emotionen zu sortieren.
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Erlaube dir alle Gefühle: Auch deine Wut, Angst oder Hilflosigkeit sind berechtigt. Manchmal reicht es, diese Gefühle einfach auszuhalten, ohne gleich „reparieren" zu wollen.
Denk daran: Du musst nicht perfekt sein oder alle Antworten haben. Manchmal ist es das Wertvollste, einfach präsent zu sein, zuzuhören und gemeinsam durch schwere Zeiten zu gehen.
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