Erst heute war die Frage wieder da: Wo genau verläuft die Grenze zwischen jugendlichem Trotz – also der Verweigerungshaltung, zum Beispiel im Haushalt mitzuhelfen oder in die Schule zu gehen – und wo beginnt die Depression, bei der diese Aktivitäten häufig gar nicht möglich sind? Wie erkenne ich den Unterschied?
Wie kann ich gleichzeitig fordernd und fördernd sein, wenn mein Sohn oder meine Tochter psychisch erkrankt ist?
Fragen die mir in meiner Praxis häufig begegnen. Eltern sitzen vor mir, erschöpft und verunsichert, weil sie nicht mehr wissen, ob das Verhalten ihres Teenagers noch „normal“ ist. Ist es die Pubertät? Oder steckt mehr dahinter? Die Sorge um das eigene Kind kann überwältigend sein – und das ist völlig verständlich.
Die Kunst des achtsamen Begleitens
Als Elternteil kannst du dich manchmal wie eine Seiltänzerin fühlen. Auf der einen Seite möchtest du dein Kind beschützen und all seinen Schmerz nehmen. Auf der anderen Seite weißt du, dass dein Teenager seinen eigenen Weg finden muss. Es ist völlig normal, wenn du dich in dieser Situation überfordert fühlst. Es ist okay, nicht immer zu wissen, was das Richtige ist.
Vielleicht kennst du das: Dein 16-jähriger Sohn liegt seit Tagen nur im Bett, reagiert gereizt auf jede Ansprache. Ist das noch Teenagerverhalten oder bereits ein Warnsignal? Die Unsicherheit kann lähmend sein. Manchmal hilft es, genau hinzuschauen: Wie lange dauert dieser Zustand schon an? Gibt es noch Momente der Freude? Hat sich der Freundeskreis verändert?
Eine Mutter erzählte mir kürzlich: „Meine Tochter war immer so lebensfroh. Jetzt sitzt sie nur noch in ihrem Zimmer, zeichnet düstere Bilder und reagiert auf nichts mehr.“ Wir haben gemeinsam geschaut, was die Tochter durch ihre Zeichnungen ausdrückt – und so öffnete sich ein neuer Kommunikationsweg zwischen Mutter und Tochter.
Warnzeichen erkennen – ohne in Panik zu verfallen
Es gibt einige Hinweise, die auf mehr als nur pubertäre Stimmungsschwankungen hindeuten können: anhaltende Traurigkeit über mehrere Wochen, sozialer Rückzug, Schlafprobleme, Appetitveränderungen oder der Verlust von Interesse an früher geliebten Aktivitäten. Doch selbst wenn du diese Zeichen bemerkst – das bedeutet nicht, dass du versagt hast.
Wichtig ist: Diese Anzeichen sind Einladungen zum genaueren Hinschauen, nicht zum Katastrophisieren. Manchmal durchleben Jugendliche intensive Phasen der Selbstfindung, die von außen besorgniserregend wirken können. Die Kunst liegt darin, wachsam zu bleiben, ohne die eigene Angst auf das Kind zu übertragen.
Zwischen Fürsorge und Autonomie
Meine Empfehlung ist, präsent zu bleiben, ohne zu überwältigen. Zeige deinem Kind, dass du da bist, aber respektiere auch dessen Grenzen. Diese Balance zu finden, ist eine der größten Herausforderungen in der Begleitung von Teenagern mit psychischen Problemen.
Präsenz bei Jugendlichen scheint manchmal schwierig, wenn sich die Kinder in ihr Zimmer zurückziehen und vielleicht den ganzen Tag nicht zu sehen sind. Hier hilft eine Einladung zu gemeinsamen Aktivitäten, wie zum Beispiel gemeinsames Abendessen, Kartenspiel, Film schauen, eine kurze Autofahrt zum Lieblingseisladen, gemeinsames Kochen eines neuen Gerichts oder einfach nur nebeneinander auf dem Sofa sitzen – ohne Erwartungsdruck.
15 Minuten Gemeinsamkeit pro Tag schafft mehr Nähe als ein Ganztagsausflug am Wochenende.
Dabei ist es nicht wichtig, dass die Jugendlichen auch immer mitmachen. Bereits das Angebot durchbricht die kognitive Schranke und dringt direkt in das Unterbewusstsein vor. Soll heißen: Bereits die Nachricht, dass du gerne etwas mit deinem Teenager machen möchtest, ist hier beziehungsfördernd, auch wenn es nicht angenommen werden sollte.
In meiner psychologischen Beratung erlebe ich, wie sich das auswirkt, wenn Eltern lernen, ihre eigenen Ängste von den Bedürfnissen ihrer Kinder zu trennen. Manchmal geht es darum, die Kinder von den eigenen unverarbeiteten Erfahrungen zu unterscheiden.
Die eigenen Ängste verstehen
Manchmal projizieren wir unsere eigenen Erfahrungen auf unsere Kinder. Hattest du selbst schwierige Teenagerjahre? Dann ist deine Angst verständlich und dass du möchtest, dass dein Kind nicht Ähnliches durchmacht. Doch jeder Mensch hat seinen eigenen Weg. Was für dich schwer war, muss es für dein Kind nicht sein. Diese Unterscheidung zu treffen, ist essentiell für eine gesunde Begleitung.
Ein Vater berichtete mir: „Ich hatte mit 17 eine schwere depressive Phase. Jetzt sehe ich bei meinem Sohn ähnliche Anzeichen und bin in Panik.“ Gemeinsam haben wir erarbeitet, was tatsächlich beim Sohn passiert und was die eigenen Erinnerungen sind. Diese Trennung half ihm, gelassener und unterstützender auf seinen Sohn zuzugehen.
Selbstfürsorge als Schlüssel
Eine befreundete Psychotherapeutin sagte zu mir einmal:
Der einzige Weg, den eigenen Kindern ein glückliches Leben zu ermöglichen, ist es, selber glücklich zu sein.
Denn nur so können wir es ihnen vorleben und so können sie von uns lernen.
Aus diesem Grund ist die Selbstfürsorge so wichtig. Wenn Eltern ihren Teenagern erzählen, wie sie sich um sich selber gekümmert haben, lernen sie davon. Meiner Erfahrung nach kommen Jugendliche auch lieber in die Eltern-Supervision, wenn die Eltern es ihnen vormachen.
Das kann ganz praktisch aussehen: „Ich hatte heute einen stressigen Tag und bin deshalb eine Runde spazieren gegangen.“ Oder: „Mir hilft es, meine Gedanken aufzuschreiben, wenn ich nicht schlafen kann.“ Du zeigst damit, dass es normal und wichtig ist, sich Hilfe zu holen und auf die eigenen Bedürfnisse zu achten.
Kreative Wege der Kommunikation
Manchmal öffnen kreative Ausdrucksformen neue Kommunikationswege. Ein gemeinsames Kunstprojekt, Musik hören oder sogar zusammen zu zeichnen kann Türen öffnen, wo Worte versagen. Ich erlebe immer wieder, wie Jugendliche beim Malen oder Schreiben plötzlich zu sprechen beginnen – oft über Dinge, die sie sonst für sich behalten hätten.
Gemeinsam durch die Krise
Wenn ich erlebe, dass die Diagnose, die ein Kind oder Jugendlicher bekommen hat, eigentlich eine Familien-Diagnose ist – und das ist sie fast immer – ist es wichtig, das Problem auch gemeinsam anzugehen.
Deine eigene Offenheit öffnet auch deinen Teenager. Dabei gelten für Eltern allerdings ein paar Regeln, damit sowohl eine Freundschaftsbeziehung als auch eine Rollenumkehr vorgebeugt wird:
- Eltern bitten ihre Teenager nicht um Rat, sondern vermitteln, dass sie sich den Rat von Freunden, Partner, Großeltern, Psychologen oder Psychotherapeuten (oder anderen Helfern) holen.
- Wenn du bereits Lösungen für dein Problem hast, kommuniziere diese mit: „Manchmal bekomme ich Angst, wenn ich an alte Erlebnisse denke. Dann hilft mir eine Tasse Tee und ein Gespräch mit Freundin Y.“
- Die Probleme des Teenagers sind in diesen Gesprächen wichtiger als die eigenen Probleme. Du bist derjenige, der hilft.
- Wenn du nicht weiter weißt, vermittelst du das mit einem Hilfsangebot: „Das weiß ich jetzt auch nicht, aber wir können ein Gespräch beim Psychologen Martin buchen, da können wir entweder gemeinsam oder du alleine Antworten finden.“
- Achte darauf, dass dein Teenager nicht zum Therapeuten für deine Probleme wird – das überfordert ihn und kann die gesunde Eltern-Kind-Beziehung beschädigen.
- Bewahre deine Rolle als sicherer Hafen: Auch wenn du deine eigenen Herausforderungen teilst, bleibst du die stabile, verlässliche Bezugsperson.
Wann professionelle Hilfe wichtig wird
Professionelle Unterstützung kann beiden Seiten helfen, den richtigen Weg zu finden. Es ist kein Zeichen von Schwäche, wenn du dich Hilfe holst – im Gegenteil. Es zeigt deinem Teenager, dass es mutig und klug ist, sich Unterstützung zu suchen, wenn man sie braucht.
Manchmal reicht schon eine einzelne Beratungssitzung, um wieder Klarheit zu bekommen. In anderen Fällen ist eine längere Begleitung sinnvoll. Wichtig ist, dass du dich nicht scheust, diesen Schritt zu gehen – für dich und für dein Kind.
Denke daran: Es ist ein Prozess, und du musst nicht perfekt sein. Sei geduldig mit dir und deinem Kind. Gemeinsam könnt ihr einen Weg finden, der für euch beide stimmig ist.
Die Teenager-Jahre sind eine Übergangszeit – für dein Kind, aber auch für dich als Elternteil. Mit Achtsamkeit, Geduld und der Bereitschaft zur professionellen Unterstützung könnt ihr diese herausfordernde Zeit nicht nur überstehen, sondern sogar gestärkt daraus hervorgehen.
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